Ich stehe an einem Stand auf dem Markt in Hassan. Eine Frau
bietet allerlei Krimskrams an. Während meinen vergeblichen Versuchen, den Preis
zu vermitteln, stellt sich plötzlich ein fremder Mann zu mir und legt mir
seinen Arm auf die Schulter. Er fragt, wo ich herkomme. Als er herausfindet,
dass ich ein paar Wörter Kannada spreche, gerät er nahezu in Ekstase. Er
schreit über den ganzen Markt auf Kannada: „Hey, er spricht Kannada, er spricht
Kannada!“ Nun bekomme ich immer mehr Shoppingbegleitung. Mit Hilfe meiner neuen
Berater erfahre ich dann schließlich auch den Preis. Dann werde ich zu einem
Obststand gebeten. Man schenkt mir eine Banane. An einem anderen Stand bekomme
ich einen Apfel. Ich bedanke mich und verabschiede mich in Richtung
Bushaltestelle. Wieder einmal bin ich völlig perplex.
Nach mehr als 3 Monaten in Indien ist Vieles Alltag
geworden. Das morgendliche Fußballspielen mit indischen Jugendlichen, die
Kirche am Sonntag mit unserem Direktor und unser täglicher Papaya- und
Kekskauf. Zu den Mahlzeiten kommen wir wie selbstverständlich mit unseren
Blechtellern in die Dininghall, lassen uns Reis geben und setzen uns zu den
Kindern auf den Boden. Das Herumalbern mit Madhou und den Kindern, der
abendliche Unterricht, alles ist mir vertraut. Und immer dann, wenn ich mich
dabei ertappe zu denken, ich habe das Leben in Indien, in Hassan oder zumindest
in unserer näheren Umgebung verstanden, dann passieren solche Situationen wie
auf dem Markt. Mir wird klar, dass ich niemals auch nur ansatzweise alles
verstehen werde. Dieses Land, ja alleine schon Hassan bietet immer wieder so
viele Überraschungen und Besonderheiten. Fast jeden Tag lerne ich irgendetwas
Neues. Sei es die Vergangenheit eines unserer Kinder, die mir vor Augen führt,
wie nichtig meine Kindheitssorgen doch im Vergleich zu ihren scheinen. Dann bin
ich immer wieder aufs Neue beeindruckt wie unbeschwert sie spielen und lernen.
Oder, dass die Christen hier 40 Tage lang nach dem Tod eines Verwandten kein
Fleisch essen und am 40.Tag dann ein großes Fest feiern. Doch ich lerne nicht
nur, ich bekomme auch immer wieder meine Vorurteile, die trotz Ablehnung im
Unterbewusstsein blieben, eindrucksvoll wiederlegt. Beispielsweise habe ich meine
Kamera in einem kleinen Chailaden liegen lassen. Anstatt sie einzustecken und
mit dem Verkauf sein kleines Gehalt etwas aufzubessern, trug der Besitzer mir
sie auf die Straße hinterher.
Vieles ist alltäglich und vertraut geworden, aber vieles
bleibt auch neu. Diese vielen kleinen Momente ermahnen mich immer wieder, nicht
alles als selbstverständlich hinzunehmen. Und trotz oder gerade wegen dieser
vielen Überraschungen und Besonderheiten, denke ich, als wir vom
Zwischenseminar zurückkommen und die Straße zum Kinderheim hinuntergehen: „Du
bist zurück zu Hause.“
Robin